Die bodenlose Existenz

Ohnehin bewege ich mich bereits auf dem dünnen Eis des Alters. Vom sicheren Ufer der mittleren Jahre Schritt für Schritt der Mitte des Sees zu, wo der Untergang gewiss ist.
Aber es ist ja nicht nur der Schock dieser Erkenntnis, der mich ins Bodenlose stürzt – noch vor der Mitte des Sees. Auch das Ufer der mittleren Jahre war ja keineswegs sicher. Doch nicht deswegen, weil, wie es volkstümlich heißt, nichts im Leben sicher ist. Das ist zwar wahr, aber platt, weil mit diesem Gelalle die Beschwerden der Menschen über die ihnen zugestoßenen Unbilden abgewürgt werden sollen. Sondern weil wir, und damit meine ich alle Proletarier*innen aller Länder, gar kein Ufer, sprich Boden, unter den Füßen haben. Kein Zentimeter Boden gehört uns. Angewiesen sind wir auf Gesetze, gemacht im Interesse derer, die sich die Böden angeeignet haben. Gesetze, die uns mehr oder weniger erlauben, ein Stückchen Boden zu nutzen, uns da und dort zu bewegen, ja überhaupt zu leben. Die Erlaubnis kostet allerdings, und zwar nicht wenig! Zum Beispiel Mieten. Gar nicht zu reden von den Steuern, mit denen wir Straßen, Wege und Plätze finanzieren. Und können wir das nicht, können wir nicht zahlen, ja dann springt, solange ihn die Bodeneigentümer*innen nicht abschaffen, der Sozialstaat ein. Und abgeschafft soll er werden! Immer und immer ist das neben der Profitschinderei das erklärte Ziel der großen Eigentümer*innen. Sollen doch wir bodenlose Existenzen umkommen!
Genau. Nichts ist sicher. Alles verändert sich. Füge dich elegant in die aussichtslose Bodenlosigkeit. Wir sind alle nur Gäste auf dieser Erde, und:

Erhebet ein Zwist sich,
so stürzen die Gäste
geschmäht und geschändet
in nächtliche Tiefen
und harren vergebens,
im Finstern gebunden,
gerechten Gerichtes!


(aus „Das Lied der Parzen“ in „Iphigenie auf Tauris“
von Johann Wolfgang Goethe)




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